Perfekte Fremde

Draußen herbstelt es ein kleines bisschen und ich mag es. Der Wind weht gelbe Blätter auf meinen Balkon und lässt die Kleider an meiner Kleiderstange tanzen. Die Luft, die in Böen hereinweht, ist frisch, die Abendsonne golden. Und ich hier drinnen ein aufgeregtes Nervenbündel.

Heute treffe ich dich. Dich, den ich mal gut kannte. Dich, der du mir inzwischen fremd geworden bist. So fremd, dass wir uns heute als Fremde begegnen werden. Perfekte Fremde.

Was ziehe ich an? Wie will ich aussehen, wenn ich dir entgegentrete? Mein Magen schlägt Purzelbäume, meine Gedanken schlagen Wellen. Sie richten Chaos in mir an und lassen mich nicht ruhig sitzen. Wie soll ich so denn meine Haare glätten? Sie sind so viel länger als damals und verstecken inzwischen ein paar einzelne weiße Strähnen in sich. Ich trage immer noch dasselbe Parfüm wie damals. Ob es dir auffällt? Ob dir auffällt, wie viele Gedanken ich mir gemacht habe, wenn ich vor dir stehe?

Es gab eine Zeit, da konnte ich keinen Gedanken vor dir verheimlichen. Du hättest immer erkannt, dass mich etwas beschäftigt. Manchmal sogar, was es ist. Es gab eine Zeit, da teilte ich mit dir, was es ist, ohne dass du raten musstest. Lange her, dass wir alles miteinander teilten. Sorgen, Betten, Lieblingslieder, Spagetti. Lange her und abrupt von dir beendet.

Und heute? Heute treffen wir uns wieder, weil wir schauen wollen, was heute sein kann. Welche Zeit jetzt ist. Zeit für Ehrlichkeit? Wir wissen nichts mehr voneinander und teilen nichts mehr miteinander. Wir wissen nicht, welchen Schmerz wir noch mit uns herumtragen und was wir einander nicht gesagt haben. Zeit für neue Liebe? Als Fremde treten wir uns heute gegenüber und schauen, ob wir uns entfremden wollen. Ob wir mutig genug sind und alle Zweifel über Bord schmeißen können. Ob wir den alten Schmerz gegen neue Liebe eintauschen wollen.

Meine Haare sind glatt und ich frage mich, ob ich sie lieber lockig tragen möchte. Meine Hose ist zu lang und ich frage mich, ob ich lieber ein Kleid anziehen soll. Mein Lippenstift ist ziemlich rot und ich frage mich, ob das nicht zu krass ist. In meinem Kopf nur offene Fragen und zu viel Chaos, um Antworten zu finden. Zu viel Ungewissheit, Unsicherheit. Ich weiß nicht, was wir reden sollen, wie ich mich in deiner Gegenwart fühle, wie nervös du bist, wie viel Nähe angemessen ist. Ich weiß nichts, was dich anbelangt.

Sind wir perfekte Fremde, perfect strangers? Und sollten wir es dann nicht einfach bleiben?

Diese Wand, die ich da um mein Herz hochgezogen habe, ist massiv und scheinbar unkaputtbar. Aber manchmal bescheiße ich mich auch selbst. Manchmal ist nichts so wie es scheint. Und manchmal bin ich mutiger und stärker und größer als ich glaube. Ob heute der Zeitpunkt ist? Ob es heute reicht, eine Mauer einzureißen? 

Inzwischen ist das Gold der Abendsonne verschwunden und der Himmel hat sich verdunkelt. Ich schließe die Balkontür. Dabei fällt ein Kleid vom Bügel. Ich hebe es auf und ziehe es an. Es wird Zeit, zu gehen. Ein letzter Blick in den Spiegel, eine letzte offene Frage, eine letzte Sekunde alte Zeit. Ein letztes Mal fremd.

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