Langsam aber sicher beschleicht mich das Gefühl, dass ich dieses Jahr lernen darf, noch radikaler meine Bedürfnisse zu achten und Grenzen zu setzen. Ich dachte, ich bin darin schon ganz gut, aber dieses Jahr werde ich immer wieder auf die Probe gestellt. Ich gerate in Situationen, in denen von außen etwas von mir verlangt wird, das meine Grenzen überschreitet, oder in Situationen, in denen schlichtweg alles in mir danach schreit, der Situation zu entfliehen. Situationen, in denen ich mit meinen Grenzen konfrontiert werde. Situationen, in denen es mir nicht immer leicht fällt, sie zu wahren. Und ich dazulernen darf.
Die Herausforderung mit Grenzen & Bedürfnissen
Ein Beispiel einer solchen Situation war eine Feier, die eine Freundin und ich gemeinsam für eine weitere Freundin organisierten. Wir waren bereits den ganzen Tag mit einer Gruppe zusammen gewesen, hatten getrunken und viel Spaß gehabt. Als die Feier dann losging, hatte ich Rückenschmerzen vom vielen Stehen und war müde. Aber ich versuchte, es zu ignorieren, und tanzte und feierte mit. Doch irgendwann war der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr konnte und auch nicht mehr wollte. Mein größter Wunsch war Ruhe und mein Sehnsuchtsort mein Bett. Wenn dieser Punkt bei mir erreicht, das Bedürfnis lauter als alles um mich herum und die Grenze überschritten ist, dann setzt mein Fluchtinstinkt ein. Ich wollte nur noch weg, nur noch nach Hause. Ich sagte meiner Freundin, dass ich gehen wolle, doch da sie und ich gemeinsam die Verantwortung für den Raum und die ganze Feier trugen, war sie wenig begeistert. Also kümmerte ich mich darum, dass jemand anderes den Schlüssel für den Raum nahm, sodass auch sie gehen konnte, wann sie wollte, und verabschiedete mich.
Ein paar Tage später schrieb sie mir in einer langen Nachricht, dass sie enttäuscht von mir und wütend darüber sei, dass ich einfach gegangen war. Es stellte sich heraus, dass das mit dem Schlüssel nicht so geklappt hatte, wie ich es organisiert hatte, und sie doch bis zum Ende da bleiben musste. Letztendlich hatte sie sich mit der Verantwortung alleingelassen gefühlt. Natürlich tat es mir leid. Meine Absicht war nie gewesen, sie alleine und im Stich zu lassen. Doch die Realität war: Ich war meinem lauten Bedürfnis, meinem Instinkt gefolgt und sie fühlte sich davon verletzt. Und das tat mir wiederum weh.
In diesem Moment erkannte ich die wahre Herausforderung mit Bedürfnissen und Grenzen. Es ist häufig so schwer, die eigenen Grenzen zu wahren, weil wir dadurch immer riskieren, andere vor den Kopf zu stoßen und die Harmonie zu gefährden. Gerade, wenn wir Glaubenssätze in uns tragen wie, dass wir es allen recht machen oder uns unterordnen müssen. Ich habe bereits vor längerem die Entscheidung getroffen, gut auf mich zu achten und mich zur Priorität zu machen. Aber in diesem Moment beschloss ich noch etwas anderes: und zwar, meine Grenzen und Bedürfnisse klarer zu kommunizieren, vor allem den mir engsten Menschen. So, dass sie sich darauf einstellen und besser damit umgehen können. Das ist theoretisch nicht meine Pflicht, ich weiß, aber es ist mein Wunsch.
Was brauche ich und wo ist Schluss?
Allgemein gab es dieses Jahr – sicherlich auch dank der neuen Freiheit nach den vergangenen zwei Jahren und den damit verbundenen, sozialen Verpflichtungen – bereits viele Momente, in denen ich in mir ganz stark das Bedürfnis nach Ruhe und Zeit für mich wahrnahm. Das habe ich allgemein aufgrund meiner Hochsensibilität und Introvertiertheit. Doch auf einmal, ja irgendwie plötzlich waren da wieder viel mehr Termine in der Freizeit und Zusammenkünfte mit Menschen. Das ist wunderschön, aber eben auch echt anstrengend für mich. Vielleicht sogar anstrengender als noch vor zwei Jahren. Aber vielleicht bin ich mir auch einfach nur bewusster darüber, kenne mich selbst noch besser und spüre deshalb das Bedürfnis schneller.
Dank all dieser Situationen darf ich erkennen, wo meine Grenzen liegen und welche Bedürfnisse ich habe. Denn das ist der erste Schritt. Was ist mir wichtig? Was brauche ich, damit es mir gut geht? Wofür stehe ich ein, wofür gehe ich los? Was geht zu weit? Was tut mir nicht gut? Nimm dir an dieser Stelle gerne einen Moment für dich und lass die Fragen in dir wirken. Manchmal stoßen wir erst in Situationen und durch Erfahrungen darauf, manchmal helfen uns aber auch simple Fragen, um Erkenntnisse zu sammeln.
Mein Handeln ist nicht der Auslöser für Enttäuschung, sondern ein Trigger, der mein Gegenüber auf seine eigene Herausforderung aufmerksam macht.
Wo genau ist jetzt der Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Grenzen? Ganz einfach: Um ein Bedürfnis zu achten und zu erfüllen, bedarf es Grenzen all dem gegenüber, was es mir unmöglich macht, das Bedürfnis zu erfüllen. Wenn ich beispielsweise das Bedürfnis nach Ruhe wahrnehme, mich aber gerade in einer „lauten“ Situation befinde oder mir eine solche Situation bevorsteht, etwa ein Treffen mit mehreren Freund:innen, dann darf ich eine Grenze ziehen. Indem ich zum Beispiel gehe oder mich für das Treffen entschuldige. Ja, es kann sein, dass ich damit enttäusche. Aber soll ich dir etwas verraten, was ich inzwischen auch gelernt habe: Häufig ist mein Handeln selbst gar nicht der Auslöser für Enttäuschung, sondern vielmehr ein Trigger, der mein Gegenüber auf seine eigene Herausforderung aufmerksam macht.
Wann hast du das letzte Mal eine Grenze überschritten, nur, um es anderen recht zu machen? Und wann hast du eine Grenze gewahrt und bist für dich eingestanden?
Was ist radikal?
Was meine ich mit „radikalen Grenzen“? Ob etwas radikal ist oder nicht, ist wahrscheinlich eine subjektive Wahrnehmung. Für mich fühlt es sich radikal an, heimzugehen, obwohl alle anderen noch feiern und mich überreden, zu bleiben. Es fühlt sich radikal an, aus freien Stücken keinen Alkohol zu trinken, obwohl es alle anderen tun. Es fühlt sich radikal an, keinen BH zu tragen, obwohl alle anderen einen tragen. Mein Bedürfnis dahinter: frei zu entscheiden, was ich tragen und wie ich aussehen möchte. Meine Grenze: mich nicht durch gesellschaftliche Normen fremdbestimmen lassen.
Ist es nicht verrückt, dass sich diese Dinge „radikal“ für mich anfühlen? Merke: Es fühlt sich immer dann radikal an, wenn es niemand sonst tut. Ich tue etwas, OBWOHL alle anderen etwas anderes tun. Uns scheint gesellschaftlich so sehr eingetrichtert zu werden, uns anpassen und dazugehören zu müssen (okay, das ist auch etwas Urmenschliches, weil wir in der Steinzeit ohne Gemeinschaft nicht überlebt hätten), für Harmonie sorgen zu müssen (das wird vor allem Frauen beigebracht), dass es als radikal, ja sogar als egoistisch gesehen wird, die eigenen Bedürfnisse über die der anderen zu stellen. Dabei geht es bei all diesen Dingen um unser eigenes Wohlbefinden in UNSEREM Leben. In MEINEM Leben geht es doch letzten Endes immer darum, dass es mir gut geht und ich hier eine gute Zeit habe. Und wie ich das mache, wie ich dorthin komme, geht doch wirklich NIEMANDEN sonst etwas an (also außer es verletzt tatsächlich Menschen oder missachtet deren Grenzen und Persönlichkeitsrechte).
Sei es dir wert!
Ich könnte noch so viel mehr über Grenzen schreiben. Über radikale Grenzen. Aber letztendlich schätze ich, darf jede:r von uns selbst lernen, seine oder ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen und Grenzen zu setzen. Schließlich sind sie vollkommen individuell. Und trotzdem möchte ich dir eines mitgeben: Tu dir den Gefallen und lerne das! Sei es dir wert, dich und das, was du brauchst, besser kennenzulernen und dann auch danach zu handeln. Mach dir selbst das Geschenk und sei radikal in deiner Selbstfürsorge, auch wenn es bedeutet, die zwischenmenschliche Harmonie für kurze Zeit aus der Balance zu bringen oder jemanden vor den Kopf zu stoßen. Glaub mir: Er oder sie bleibt trotzdem in deinem Leben, wenn du ihm oder ihr wichtig bist.