Wie ein Fähnchen im Wind

Ich stelle den Wecker um 6 Uhr, damit ich meditieren und Yoga machen und dann um 9 Uhr das Arbeiten anfangen kann. Ach, ich fange einfach erst um 11 Uhr an und arbeite abends länger, ist auch okay. Ja, ich bin zufrieden damit, von zu Hause aus zu arbeiten. Ach, ich könnte mir auch einen Platz in einem Coworking Space mieten. Ich werde weniger auswärts essen, ich gebe wirklich zu viel Geld dafür aus. Ach, im Café bin ich einfach kreativer und abends Essen zu gehen ist so ein schöner Tagesabschluss. Du findest, wir sollten uns nicht mehr sehen, weil wir uns nicht guttun? Du hast recht. Ach, aber gegen ab und zu unverbindlich treffen ist doch nichts einzuwenden, oder?

Ich bin ein Fähnchen im Wind. Eines, das sich für keine Richtung festlegt. Das mal hierhin und mal dorthin weht. Das sich von außen beeinflussen lässt. Dabei würde ich so gerne nur noch in die Richtung wehen, die mir entspricht. Welche das ist? Keine Ahnung. So wie ich als Kind möglichst schnell erwachsen sein sollte, so sehne ich mich jetzt danach, eine Richtung für mich zu finden und mich darauf festzulegen. Es kann mir nicht schnell genug gehen. Doch dabei vergesse ich, dass es ein Prozess ist, eine Entwicklung, ein Weg. So wie alles.

Manche Antworten kenne ich, andere nicht

Manche Antworten habe ich bereits gefunden. Zum Beispiel, dass ich mich vegetarisch ernähren möchte, um meiner Umwelt und den Tieren, unseren ebenbürtigen Mitbewohner*innen, eine Chance zu geben. Oder auch, dass ich mich für mehr Körperliebe, Vielfalt und Gleichberechtigung in der Gesellschaft einsetzen möchte. Ich habe Themen gefunden, für die ich brenne, und Werte, für die ich einstehe. Ich habe Verhaltensweisen gefunden, die ich gerne behalten oder mir aneignen möchte. Und ich habe manches Ziel für mich definiert, das ich gerne erreichen möchte – nicht des Erfolges, sondern meiner Träume wegen.

Wie werde ich vom Fähnchen im Wind zum Felsen in der Brandung, der allen Stürmen trotzt?

Doch viele Antworten kenne ich noch gar nicht. Und das macht mich ungeduldig. Ich bin ein Fähnchen im Wind, das keines sein will. Viel lieber will ich einen Plan haben, Bescheid wissen und klipp und klar Entscheidungen treffen. Ich will in jedem Moment eine klare Meinung vertreten anstatt zu zweifeln, zu schwanken und unsicher zu sein. Ich muss noch nicht das Ende kennen, aber zumindest die Richtung. Ich muss noch nicht wissen, wo ich in einem Jahr bin, will aber überzeugte Schritte dorthin gehen. Aber wie schaffe ich das? Wie werde ich vom Fähnchen im Wind zum Felsen in der Brandung, der allen Stürmen trotzt?

Ein fuß vor den anderen

Ich werde es lernen. Indem ich einen Fuß vor den anderen setze, mal vorsichtig die Zehen vorstrecke und mal mutig auf den Boden stampfe, und meinen Weg finde. Indem ich eine Abzweigung nehme, die sich als Sackgasse entpuppt, und wieder umkehre. Indem ich über Hindernisse falle und mich mal schneller und mal langsamer wieder aufrapple. Indem ich immer weitergehe und dabei das Vertrauen nicht verliere, dass sich alle Antworten finden werden. Ich werde mit jedem Schritt dazulernen und mit jedem Schritt trittsicherer. Ob ich jemals ein steinharter Felsen werde, den nichts mehr umhaut, weiß ich nicht. Vom Fähnchen zum Felsen ist es ein weiter Weg. Vielleicht werde ich irgendetwas dazwischen, das nicht mehr nur flattert, sondern seine Richtung kennt, seine Meinung hat und trotzdem schwanken und sich umentscheiden darf.

We dance inside the storm.

Sam Garrett

Im Nachhinein betrachtet habe ich einiges in meiner Kindheit und Jugend verpasst, weil ich so unbedingt erwachsen sein wollte. Ich möchte nicht, dass es mir später noch einmal ähnlich geht, wenn ich zurückblicke und feststelle, dass ich den Weg gar nicht genossen habe – nur aus dem dringenden Bedürfnis heraus, fest zu stehen anstatt zu flattern. Sam Garrett singt „We dance inside the Storm.“ Das fasst es für mich zusammen. Ich gehe diesen Weg und tanze dabei. Und finde so immer tiefer in den Sturm hinein, wo ich mich umentscheide und schwanke, bis ich irgendwann im Inneren des Sturms angekommen bin, wo es ganz still ist. Und ich tanze immer weiter und lerne dabei und finde meine Antworten. Und bin dabei nicht länger ein Fähnchen im Wind, sondern einfach ich selbst.

Bild: Unsplash

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