Ich bin hochsensibel und du?

Die Autos sind heute irgendwie lauter als sonst. Und so schnell, viel zu schnell. Der Fahrtwind bläst mich fast um. Die Gedanken in meinem Kopf und die Autos neben mir scheinen sich in ihrer Geräuschkulisse gegenseitig übertreffen zu wollen. Mein Kopf brummt. Viel zu laut. Ohne, dass ich es wirklich beabsichtige, werden auch meine Schritte schneller. Meine Sicht verschwimmt. Viel zu viel. Als ich die Tür zur Wohnung aufschließe, lasse ich alles fallen, auch mich. Hier ist es still, aber die Geräusche in meinem Kopf hallen nach. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass einige Menschen auf eine Reaktion von mir warten. Aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht, meine Finger wollen nichts tippen, meine Augen kein Bildschirmlicht sehen und meine Gedanken in alle Richtungen fliegen, aber sich keine Antworten überlegen. Also schmeiße ich das Handy in die Ecke, schließe meine Augen und lass endlich alles um mich ruhiger und langsamer werden.

So kann es sich anfühlen, hochsensibel zu sein. Aber auch ganz anders. Manche Sinne können schneller überfordert sein als andere. Manche Situationen können anstrengender sein als andere. Auf manche Reize kann stärker reagiert werden als auf andere. Hochsensibilität ist total individuell. Aber halt: Weißt du überhaupt, was Hochsensibilität ist?

Hochsensibilität ist eine versteckte Superpower im Mantel einer Überforderung

Sensibel zu sein bedeutet, empfänglich zu sein für Stimmungen, Kritik, Emotionen und insgesamt äußere Reize und auch mal empfindlich darauf zu reagieren. Ist diese Sensibilität besonders stark ausgeprägt, kann man von Hochsensibilität sprechen. Dann werden äußere Reize noch intensiver wahrgenommen, die Reaktion darauf ist noch stärker und die Verarbeitung noch tiefer. Das bedeutet, Menschenmassen, Lärm oder eine Flut an Nachrichten können ganz schön überfordernd sein. Aber: Positive Reize werden genauso intensiv wahrgenommen. Ein wunderschöner Ort in der Natur, ein Gemälde oder ein toller Moment mit Freund*innen kann also noch mehr ausgekostet werden. Häufig ist auch große Empathie verbunden mit Hochsensibilität. Die kann dann sogar so groß sein, dass die Stimmung und Emotionen eines anderen Menschen adoptiert und selbst gefühlt werden. Das ist, wie du dir denken kannst, Fluch und Segen zu gleich. Deshalb bezeichne ich Hochsensibilität als Superpower im Mantel einer Überforderung. 

Hochsensibel zu sein ist wie besonders lange, trainierte Fühler zu haben, die anderen den Mantel ausziehen, den sie sich übergezogen haben, um ihre Emotionen zu verhüllen. Wie Fühler, die direkt die Stimmung in Situationen und deren Schönheit aufspüren sowie allerlei Einflüsse aufsaugen. Weil all diese Einflüsse erst einmal verarbeitet werden müssen, kann das erst einmal stressig und überfordernd sein. Aber die Hochsensibilität kann natürlich auch genutzt werden, um anderen zu helfen oder wirklich schöne Momente zu erleben.

Was ist falsch mit mir?

In einem Interview der Apotheken Umschau sagte die Psychologin Dr. Sandra Konrad, dass etwa 15 bis zu 30 Prozent der Bevölkerung hochsensibel seien. Doch viele wissen gar nicht davon. Viele fühlen sich ihr Leben lang irgendwie anders und damit häufig falsch. Sie wundern sich, warum sie ständig so schlapp und müde sind, nachdem sie viel Zeit mit anderen Menschen verbracht, eine Veranstaltung besucht oder einen ganz „normalen“ Tag in der Stadt verbracht haben. Hochsensibilität geht auch häufig mit Introversion einher. Introvertierte Menschen tanken Energie im Alleinsein und der Ruhe ohne Einfluss von außen – Situationen wie die genannten kosten sie dagegen eher Energie. Das gilt so ähnlich auch für hochsensible Menschen, die aufgrund ihrer intensiveren Reizaufnahme ebenfalls regelmäßig Ruhe und Zeit ohne viele Reize brauchen.

Als ich das erste Mal von Hochsensibilität gehört habe, ratterte es in meinem Kopf. Aber nicht wie sonst, wenn ich mich fragte, warum ich zu manchen Dingen einfach nicht in der Lage war und mich darüber ärgerte. Die Gedanken, die in diesem Moment durch meinen Kopf flogen, waren irgendwie positiver und wie lauter kleine „Ahas“, die als kleine Lichtkugeln das Wirrwarr lösten. Da waren plötzlich mehr freundliche Ausrufezeichen als drängelnde Fragezeichen. Da waren nicht länger Fragen, sondern endlich Antworten. Was jetzt vielleicht so dramatisch klingt, war schlichtweg eine Erkenntnis, die mich um ein paar Selbstzweifel erleichterte und mir stattdessen eine gewisse Sicherheit schenkte.

Es ist leichter, wenn man den Grund kennt

Und weil ich genau weiß, wie es sich anfühlte, sich falsch zu fühlen, möchte ich – wie zum Glück auch viele andere in den sozialen Medien – dafür sorgen, dass mehr Menschen von Hochsensibilität erfahren und damit das Wirrwarr in ihrem Kopf lösen können. Schließlich geht es dabei nicht nur darum, mehr Selbstsicherheit zu gewinnen, sondern auch, aufgrund dieser Erkenntnis neue Grenzen setzen und für mehr Wohlbefinden sorgen zu können. Und zu erkennen, dass sich eigentlich eine Superpower dahinter versteckt. Seitdem ich weiß, dass ich womöglich einfach sensibler auf Situationen reagiere als andere und Reize ungefilterter und intensiver aufnehme, lege ich mein Handy regelmäßiger weg, entziehe mich der gefühlten Pflicht, reagieren zu müssen, nehme mir noch viel bewusster Zeit nur für mich – auch wenn ich damit nicht immer auf Verständnis stoße – und kommuniziere, wenn mir etwas zu viel wird.

Du musst dich nicht ständig ausgelaugt und überfordert fühlen. Du musst dich nicht als schlechte*r Freund*in fühlen, wenn du gerade einfach nicht auf eine Nachricht oder einen Anruf reagieren kannst. Du musst nicht auf große Veranstaltungen, wenn du danach einen ganzen Tag Ruhe brauchst und sie so gar nicht genießen kannst, nur weil alle hingehen. Du musst den Samstagabend nicht mit Freund*innen verbringen, wenn der Tag in der Stadt schon anstrengend genug war. Du musst dich nicht selbst dafür fertig machen, wenn du von deinem Heimweg entlang der großen Straße total fertig bist. Du musst sowieso gar nichts, wenn dir nicht danach ist. Aber ich weiß, dass es immer ein bisschen leichter ist, Nein zu sagen, wenn man genau weiß, warum man nicht will und was man stattdessen viel lieber tun würde.

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