Das Paradoxon unserer Gesellschaft

Wie oft ich regungslos da sitze und aus dem Fenster starre. Und wie oft ich dann, anstatt es zu genießen und Glückseligkeit zu spüren, ganze Chöre in meinem Kopf höre, die mir in ohrenbetäubender Lautstärke einzureden versuchen, dass ich dieses Dasitzen und Starren gefälligst lassen soll. Es gibt schließlich so viel zu tun. Und wenn nicht, sollte ich mir schnell etwas zu tun suchen. Ich sollte weder Zeit noch Genuss in meinem Alltag haben, sondern volle To-Do-Listen und Stress. Das ist, wovon ein Leben erfüllt sein sollte. Denn das Dasitzen bezahlt keine Miete. Dasitzen bildet nicht den Grund für Erfolg. Dasitzen steigert nicht den eigenen Wert. Dasitzen zeugt lediglich von Nichtsnutzigkeit.

Es liest sich so absurd. Doch diese Absurdität ist meine, ist unser aller Realität. Wie singt es Danger Dan so schön: „Die schlimmsten Geschichten schreibt das Leben wohl selbst.“ Schwarz-weiß auf dem Papier so lächerlich und in unserem Leben bittere Wahrheit. So bitter, dass ich mich gleichzeitig dagegen zu wehren versuche und mittendrin stecke. In einem Konstrukt, das uns schon früh in unsere kleinen Gehirne injiziert dazu treibt, immer mehr, immer schneller, immer besser leisten zu wollen. Im Grunde ist dabei nicht einmal von „wollen“ die Rede, denn wenn man genau hinschaut, lässt sich hinterfragen, ob das dann tatsächlich noch unser eigener Wille ist.

Kleine Hamster in kleinen Rädern

Es geht um Leistung, nicht ums Sein. Wenn ich da sitze und vor mich hin starre, leiste ich nicht. Also meldet sich mein Verstand, der mir das vor Augen führt und mich nicht länger bloß die Hauswand gegenüber sehen lässt, sondern all die Dinge, die ich in diesem Moment stattdessen tun sollte. Erledigen sollte. Ja, Erledigen ist wichtig. Am besten gehetzt und gestresst und schlecht gelaunt. Denn nur wer erledigt, leistet, und nur wer leistet, kommt weiter. Und Weiterkommen ist noch wichtiger als Erledigen.

Aber warum eigentlich?

Von ganz weit oben betrachtet sind wir nichts anderes als kleine Hamster in Rädern, die große Angst davor haben, dass ihr Rad stehenbleibt, sie von allen anderen überholt werden und im schlimmsten Fall keine Anerkennung und Liebe mehr erfahren. Haben wir doch alle als Kinder gelernt, dass Fleiß und Leistung Anerkennung und Liebe bedeuten. Manche, nicht wenige von uns meinen sogar, dass unsere Leistung der einzige Grund für Liebe ist. Nicht etwa unser Sein, sondern alleine unser Tun. Und manche, nicht wenige von uns glauben, dass unsere Leistung und somit die uns entgegengebrachte Liebe unseren Wert als Mensch ausmacht. Wir lassen unseren Selbstwert von nicht mehr und nicht weniger definieren als unserer Leistung und Anerkennung.

Und das alles passiert un- und unterbewusst.

Die unbewusste Stimme in uns

Wir tun und leisten und hetzen aus Gründen, deren wir uns gar nicht bewusst sind. Ist das nicht verrückt? Unser Verstand gaukelt uns natürlich vor, dass wir das selbst wollen. Dass unser Ziel eben viel Geld (was nur mit viel, viel, viel harter Arbeit zu bekommen ist – nicht) oder großer Erfolg (der nur mit Stress und Burn-Out zu erreichen ist – nicht) oder eine 60h-Woche ist. Ja klar, also wenn das so ist … Und es heißt doch immer, dass wir unsere eigenen Ziele verfolgen sollen. Also tun wir das. Ohne zu hinterfragen, wer diese Ziele eigentlich für uns definiert hat – nämlich selten wir selbst.

Mein schlechtes Gewissen, das bin nicht ich. Das ist eine in mir angelegte Stimme, die mich dazu bringen will, gefälligst zu tun, weil ich sonst nicht geliebt werde und ergo nichts wert bin. Tief in mir habe ich gespeichert, dass mein bloßes Sein nicht ausreicht. Ist das nicht einer der schlimmsten selbstzerstörerischen Gedanken, den man einem Kind mit auf den Weg geben kann? Mit diesem Gedanken laufen wir alle herum und stolpern durch unser Leben. Es sei denn, wir werden uns bewusst.

Das Glück liegt im Sein

Die meisten von uns würden wohl behaupten, dass ihr Ziel ist, glücklich zu sein. Das Paradoxon: Wir suchen das Glück und verdrängen es in unserem Alltag so oft und so gut wie möglich. Obwohl es glücklich SEIN heißt, suchen wir das Glück im Tun anstatt im Sein. Und so verlieren wir zwischen all den To-Do-Listen und Terminen den Fokus für das, was uns glücklich SEIN lässt. Denn letztendlich ist es das Sein, was uns glücklich macht. Weil es uns wirklich befreit und wirklich sehen lässt, wohin wir wollen. Wir und niemand sonst. Weil wir nur im Sein unseren wahren Wert erkennen, der immer besteht, auch ohne alles.

Und auf diesem Standpunkt können wir dann anfangen, zu gehen und zu tun. Auf unserem ganz eigenen Weg. Angetrieben und motiviert von Träumen und Bildern in unserem Kopf, die unsere eigenen sind, und nicht von denen, die uns eine Gesellschaft vorgibt. Immer im Wissen, gut so zu sein wie wir sind. Auch ohne zu tun.

Ich weiß inzwischen, was ich will. Ich will verdammt noch einmal da sitzen und starren. Und zwar so oft und solange ich will. Weil ich aber meiner Auffassung nach niemanden dafür verantwortlich machen kann, dass mich mein schlechtes Gewissen immer wieder einholt, außer mich selbst, weiß ich auch, dass ich diejenige bin, die etwas ändern darf. Ich will den Chören in meinem Kopf kein Gehör mehr schenken, sodass sie irgendwann automatisch leiser werden. Und eine neue, laute Stimme etablieren, die mich aus dem Rad herausholt, wenn ich mich mal wieder darin verloren habe, und darin bestärkt, da zu sitzen und zu starren.

Ein Kommentar zu “Das Paradoxon unserer Gesellschaft

  1. Liebe Leonie,
    wunderbare Worte für ein Phänomen, dass ich auch bei mir selbst kenne – der ständige Hustle, etwas Produktives zu tun. Das Credo „Tun-Haben-Sein“ ist das Rad, dass auch mich bei der Stange hält, OBWOHL mein Kopf weiß, dass es besser wäre, das über den Haufen zu schmeißen. Und lieber das „Sein“ nach vorne zu stellen. Statt ständig To-Dos abzuarbeiten, einfach to-be sein. Das Herz fühlt das noch nicht immer, aber es wird besser 🙂
    Hab einen schönen Abend!

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