
In mir brodelt es. Nicht temporär, wie in Momenten, in denen jemand was Blödes sagt. Sondern schon länger und stetig. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben, dieses Gefühl. Ich glaube, es ist Wut. Aber so, wie ich sie noch nie gespürt habe. Einerseits befeuert sie mich und meine Energie von innen heraus. Und entfacht etwas Unbekanntes in mir, das mich mit unendlicher Kraft vorantreibt. Andererseits beschwert sie mich in meinem Sein und nimmt mir Leichtigkeit. Dieses Gefühl strengt mich an und macht mich so seltsam aufgekratzt und unruhig.
Woher kommt die Wut und was macht mich wütend?
Meine Toleranz für Intoleranz schrumpft seit einiger Zeit. Grundsätzlich sind mein Verständnis und meine Toleranz wirklich groß. Ich kann mich gut in Menschen hineinversetzen und bin immer daran interessiert, ihre Sicht nachzuvollziehen. Aber desto stabiler ich in meiner Weltansicht werde, desto sensibler werde ich gegenüber intoleranten Aussagen. Nicht gegenüber anderen Meinungen und Ansichten, sondern gegenüber Intoleranz und fehlendem Bewusstsein. In solchen Fällen kann ich mir nur noch schwer zurückhalten, etwas zu entgegnen. Ich kann und möchte mich nicht mehr zurückhalten. Weil ich es zu lange getan habe. Weil ich Bewusstsein schaffen will. Und weil ich zu bestimmten, gesellschaftlichen Themen immer engere Beziehungen entwickle. Dadurch wächst das Bedürfnis, sie zu verteidigen und mich für sie einzusetzen. Wie das eben so ist in Beziehungen.
Das sorgt aber eben auch dafür, dass ich eine Grundwut mit mir herumtrage. Und irgendetwas in mir klammert sich an sie und will sie behalten. Vielleicht, weil es an der Zeit ist, zu lernen, wütend zu sein. Denn das habe ich bisher nicht. In meinem Umfeld war man entweder einfach nicht wütend oder cholerisch. Das letzte Mal, dass ich so richtig wütend war und das auch ungebremst gezeigt habe, war in der Pubertät. Doch damals wurde ich darin nicht ernstgenommen. Man wollte mich so nicht ertragen, schickte mich in mein Zimmer, dessen Türe ich natürlich möglichst laut zuknallte, und dort sollte ich bleiben bis ich mich beruhigt hatte. In meiner Beziehung später äußerte sich Wut in Tränen, sodass ich sie mit Traurigkeit verwechselte. Heute weiß ich, dass es nicht gesund ist, nie wütend zu sein. Denn die Wut ist ja da, wird aber zurückgehalten und staut sich deshalb irgendwo an. Es erscheint mir also fast schon logisch, dass sie sich dann früher oder später zeigt. Also jetzt. Und zwar in ihrer vollen Form mit ihrer vollen Kraft und in voller Auswirkung. Was nicht bedeutet, dass ich inzwischen weiß, wie ich mit ihr umgehen kann.
Endlich laut statt leise
Aber Wut wurde nicht nur in meinem Umfeld nicht kultiviert, sondern auch generell gesellschaftlich nicht. Auch in mir ist der Glaube fest verankert, als Frau nicht wütend sein zu dürfen. Und seit ich mir dessen bewusst bin, bin ich auch darüber wütend. Ich soll freundlich sein, höflich, umgänglich, einfach, unkompliziert, angenehm, angepasst? Das würde heute niemand mehr sagen, weil sich oberflächlich alle bewusst darüber sind, dass das nichts als Scheiße ist. Aber eben nur oberflächlich, denn diese Erwartungen an Frauen schwingen in der Tiefe in allem mit. Angefangen bei der Erziehung von weiblich gelesenen Kindern, weitergeführt in der Interpretation der Rolle der Frau bis hin zur Bezeichnung einer wütenden Frau als „zickig“ und eines wütenden Mannes als „durchsetzungsstark“. Und diesen Erwartungen fühlte auch ich mich bis vor kurzem ausgesetzt. Bis ich mir in der Tiefe bewusst darüber wurde. Seitdem spüre ich das dringende Bedürfnis, auszubrechen. Und nicht länger zu akzeptieren, dass ich in meiner Wut nach wie vor nicht ernstgenommen werde.
Und vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich jetzt alles in mir aufbäumt und ich dieses Feuer in mir lodern spüre.
Ich habe Lust, zu schreien. Ich habe Lust, herumzutoben. Ich habe Lust, unangepasst und herrlich ehrlich zu sein. Ich habe Lust, so viele Schimpfwörter in einen Satz zu packen wie ich will. Ich habe Lust, zu provozieren und Menschen mit der Wahrheit zu konfrontieren. Ich habe Lust, zu schockieren. Ich habe Lust, das zu tun, worauf ich Lust habe. Und ich habe absolut keine Lust, mich zu beruhigen. Ich habe keine Lust, leise zu sein. Ich habe keine Lust, diejenige zu sein, die für Harmonie sorgt. Ich habe keine Lust, zu lächeln, wenn ich schlecht drauf bin. Ich habe keine Lust, zurückzuhalten, was ich denke und fühle. Ich habe keine Lust, hinzunehmen und zu akzeptieren. Ich habe keine Lust, nur auf die Gefühle anderer zu achten. Ich habe keine Lust, das Feuer in mir zu löschen. Ich habe keine Lust, etwas zu tun, worauf ich keine Lust habe.
Hi Leonie,
das Thema Wut ist von allen Emotionen auch das, was mich momentan am meisten beschäftigt – ich war nämlich nie richtig wütend, auch nicht in der Pubertät. Oder sagen wir, ich habe sie kaum zugelassen, sondern immer in mir vergraben. Ich habe mir nicht erlaubt, wütend zu sein, aus vielerlei Hinsicht: Weil es für andere Leute anstrengend ist, weil es Leute verletzten kann, etc. Aber am Ende bin ich diejenige, die darunter am meisten leidet, denn Wut kann auch Energie geben, für das einzustehen, was ich selbst für richtig empfinde. Und sie kann helfen, mich abzugrenzen. Daher lerne ich meine Wut sozusagen gerade erst so richtig neu kennen und lerne, sie für mich zu nutzen. Und das ist gar nicht so einfach 🙂
Liebe Grüße!
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Ja, das kenne ich, so ähnlich geht es mir auch. Aber es ist so gut, sich überhaupt damit zu befassen und zu lernen!
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