Mit der Kreativität ist es so eine Sache. Manche denken, sie verfügen schlichtweg nicht über sie. Andere brauchen sie zum Arbeiten, können sie aber vor lauter Druck nicht finden. Und wieder andere scheinen täglich unendliche Mengen mit dem Trinkwasser aufzunehmen und jederzeit versprühen zu können. Aber stimmt das wirklich? Sind wir entweder kreativ oder nicht? Und was ist dieses wenig greifbare Phänomen namens Kreativität überhaupt?
Kreativität bezeichnet die Fähigkeit, etwas zu erschaffen. Und diese Fähigkeit hat jeder Mensch. Das bedeutet, jede*r hat Kreativität, jede*r ist von Natur aus kreativ, wenn auch tief drin versteckt. Die Schwierigkeit ist also nicht, dass keine Kreativität da ist, sondern, dass sie in der hintersten Ecke des Seins vergraben und die Tür dorthin verschlossen ist. Der Zugang fehlt. Ich lese gerade das Buch „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron und sie hat dazu einen spannenden Ansatz. Denn häufig sind es Erwartungen, denen wir gerecht werden wollen, und Grenzen, die wir uns aufgrund von Erfahrungen gesetzt haben, die diese Tür irgendwann verschlossen haben. Vielleicht fanden unsere Eltern Kreativität unnötig, weil damit weder Geld gemacht noch Erfolg erzielt werden kann. Vielleicht fiel häufig der beliebte Ausdruck der „brotlosen Kunst“. Vielleicht wurde uns in der Schule gesagt, dass wir nicht malen/ schreiben/ singen könnten, sodass wir es komplett aufgegeben und eine Grenze gezogen haben. Und auch, wenn wir keine bestimmte Erwartungen oder Erfahrung erkennen, heißt das nicht, dass da keine Kreativität ist. Nur irgendwas, was uns den Zugang verwehrt.
Willst du kreativ werden?
The big question ist also: Wie zur Hölle finden wir diese Tür und wo hat sich der Schlüssel versteckt? Dem voran gehen natürlich der Wille und die Entscheidung, die eigene Kreativität entdecken zu wollen. Lass mal alles außen vor, was du jemals über dich und Kreativität gedacht hast. Hast du Bock, sie wieder zu entdecken? Der Grund ist erstmal zweitrangig. Ob du einfach mal wieder malen willst in deiner Freizeit, auf der Suche nach kreativen Lösungen im Job bist oder Schriftsteller*in werden willst – ganz egal. Hast du Bock, dich auf die Reise zu begeben?
Give yourself permission to be a beginner.
Julia Cameron
Ich für meinen Teil glaube, dass die Erlaubnis, die ganz ehrliche, ernstgemeinte, überzeugte Erlaubnis sich selbst gegenüber bereits die halbe Miete ist. Und die Überzeugung, dass Kreativität in einem steckt. Klar, diese Überzeugung zu etablieren, kann schon schwierig genug sein und lange dauern. Aber es lohnt sich. Und den anderen Teil der Miete machen dann eine gewisse Routine und ein paar praktische Übungen aus. Vielleicht ist die Überzeugung der Schlüssel und die Übungen sind die Tür.
Übung: Die Morgenseiten
Julia Cameron teilt in ihrem Buch neben einigen Übungen zwei essentielle Aufgaben, denen jede*r, der*die die Kreativität in sich aktivieren möchte, regelmäßig nachgehen sollte. Das eine sind die Morgenseiten, das andere ist der Künstlertreff – oder „Artist’s Date“ im Englischen. Date klingt irgendwie schöner, finde ich, und auch passender. Aber erst einmal zu den Morgenseiten. Dahinter verbirgt sich exakt das, was der Name verspricht. Es geht um drei Seiten, die wir direkt nach dem Aufstehen schreiben sollten, noch bevor unser Verstand richtig wach ist. Du kennst den Zustand, in dem du morgens halb aus dem Bett fällst und noch ziemlich verdattert ins Bad stolperst und froh bist, wenn du auf der Kloschüssel sitzt? Genau in diesem Zustand solltest du zu Notizbuch und Stift greifen und drei Seiten runterschreiben, ohne auf Rechtschreibung zu achten, über den Inhalt nachzudenken und den Stift abzusetzen. Dein Kopf soll sich gewissermaßen durch den Stift aufs Papier entleeren, ohne jeglichen Anspruch an Logik, Sinn und Sprache. Drei Seiten lang.
Wozu das ganze? Zum einen lassen sich so wiederkehrende Themen entdecken, die in uns schlummern. Das können Ängste sein, Probleme, Wünsche, Träume. Du könntest etwa erkennen, dass du eigentlich gerne Spanisch lernen, deiner Nachbarin endlich mal deine Meinung über die Lautstärke ihrer Musik sagen oder deine Angst vor einem Jobwechsel loswerden wollen würdest. Es kann dich zu neuen Erkenntnissen führen. Zum anderen aktivierst du durch den Output automatisch deine Kreativität. Auch wenn keine Idee direkt über die Morgenseiten zu dir kommt, bringst du so deine grauen, möglicherweise schon etwas eingestaubten Kreativitätszellen in Bewegung. Wichtig ist, es tatsächlich so gut wie jeden Tag zu machen und damit zur Routine werden zu lassen. Übrigens auch, wenn dein gewünschter kreativer Output vielleicht viel eher die Form eines Gemäldes, Musikstückes oder gestrickten Pullis hat.
Übung: Artist’s Date
Nun zum Date. Keine Sorge, du sollst dich nicht mit einem*einer fremden Künstler*in treffen. Sondern mit der oder dem, die oder der in dir steckt. Ja richtig, in dir steckt ein*e Künstler*in. Und nein, du bist da keine Ausnahme. Gut, vielleicht ist er oder sie dir tatsächlich vollkommen fremd (geworden), aber das darfst du jetzt ändern. So ein Date mit deinem*deiner inneren Künstler*in sieht so aus, dass du etwas mit ihm oder ihr tust, das dir Freude bereitet und wofür du dir sonst selten Zeit nimmst. Es kann etwas komplett Neues sein, das du schon immer einmal ausprobieren wolltest, aber auch ein Spaziergang im Wald, ein Ausflug in eine andere Stadt, in die Berge, an den See oder sogar ans Meer. Es kann ein Workshop sein, ein Tanzkurs, ein Besuch im Museum oder einem schönen Café oder in der Oper, eine Fahrradtour oder ein Abend in der Badewanne mit Kerzen und Hörbuch. Es muss überhaupt nichts kosten und auch nicht aufwendig sein.
Es geht darum, dass wir es alleine tun, also in Begleitung unseres*unserer inneren Künstlers*Künstlerin, und, dass es uns wirklich Freude bereitet. Dass es uns so richtig begeistert und inspiriert. Denn das ist im Gegensatz zu den Morgenseiten die Übung, bei der wir für Input sorgen. Input, der unserer Kreativität ankurbelt. Vielleicht kennst du das, dass du dich nach Tagen im Home Office am immer gleichen Ort mit den immer gleichen Aufgaben zu den immer gleichen Zeiten irgendwie leer und ausgesaugt fühlst. Eine Routine ist zwar auch für Kreativität nicht unbedingt verkehrt, doch Abwechslung, Neues und Input sind noch wichtiger.
Lass uns unentdecktes entdecken
Ich dachte eine ganze Zeit lang, dass ich einfach nicht kreativ genug bin. Aber in starren Strukturen und mit Aufgaben, die viel Logik erfordern und immer demselben Muster folgen, fühlte mich auch nicht wohl. Irgendwann kam ich dahinter, dass sich irgendwo in mir meine Kreativität verstecken muss, die ich manchmal schon sehr gut greifen kann – besonders, wenn es um Träumereien geht – und häufig aber nicht so richtig zu fassen kriege. Also habe ich beschlossen, mich mehr mit Kreativität zu beschäftigen und zu schauen, was alles noch möglich ist für mich. Denn da gibt es noch viel Unentdecktes, dessen bin ich mir jetzt bewusst. Und ich hab riesige Lust, mich auf die Reise zu begeben, immer mehr davon zu entdecken und vielleicht irgendwann einmal in ein großes Kunstwerk fließen zu lassen. Ich bin gespannt, bist du es auch?
Hallo Leonie,
ich hab gerade deinen Blog entdeckt und freue mich sehr über diesen Artikel, weil das gerade total mein Thema ist… meine Kreativität, von der ich weiß, dass sie da ist, bzw. mal da war, wieder fließen zu lassen. Das von dir empfohlene Buch klingt echt gut und nun „muss“ ich es wohl auch lesen. 😉 Schau auch gern bei mir mal vorbei, ich schreibe über ähnliche Themen. Herzliche Grüße, Laura / dr.lila
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